Fortschritte in der strukturellen Integration von Zugewanderten in Vorarlberg (2023)

Unsere aktuelle Publikation „… und sie bewegt sich doch.“ (Update 2023) beschreibt, wie sich die strukturelle Integration von Zugewanderten aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie ihren Nachkommen in den letzten Jahren in Vorarlberg entwickelt hat. Bei der sogenannten strukturellen Integration liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Bildung, der Beschäftigung und dem Wohnen. Da die Zugewanderten aus diesen Ländern bereits seit Jahrzehnten in Vorarlberg leben, ermöglichen es uns die Daten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung, nicht nur Aussagen über den Stand der strukturellen Integration dieser Zuwanderungsgruppen zu treffen, es lassen sich auch die sozialen Aufstiegsprozesse im Generationenverlauf beobachten. „okay.zusammen leben“ ließ diese Daten nun bereits zum zweiten Mal von August Gächter (Zentrum für Soziale Innovation, Wien)auswerten. Warum wir diese Schwerpunkte setzen, erläutern wir Ihnen in den nachfolgenden Absätzen. Anschließend präsentieren wir Ihnen zentrale Ergebnisse.

  • Gern diskutieren wir die Ergebnisse mit Ihnen in kleinerer Runde. Bei Interesse an einer Präsentation wenden Sie sich bitte an caroline.manahl@okay-line.at.
  • Wenn Sie sich für unsere erste Publikation zu diesem Thema aus dem Jahr 2018 interessieren, finden Sie diese hier.
  • Zu den Ergebnissen aus dem Jahr 2018 gibt es außerdem einen ausführlichen Forschungsbericht.

 


Einordnung der Publikation

Bildung und Beschäftigung sind wesentliche Dimensionen von Integration

In den Sozialwissenschaften wurde in den letzten Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Integration“ und den gängigen Integrationsmodellen geführt. Bemängelt wird beispielsweise die mit dem Begriff verbundene Vorstellung, dass „Einheimische“ automatisch integriert seien und Zugewanderte nicht, dass bei Zugewanderten die individuellen Integrationsleistungen gegenüber der Bedeutung der Aufnahmegesellschaft überbetont würden, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse kaum thematisiert würden oder dass durch die Hervorhebung der Herkunft andere Ursachen für gesellschaftliche Ungleichheit in den Hintergrund träten.[1] Trotz dieser breiten Kritik an gängigen Konzepten ist jedoch wenig umstritten, Bildung und Beschäftigung (und teilweise auch das Wohnen), die sozialen Aufstieg ermöglichen, als „Kern“ von Integration zu betrachten. Je nach Modell wird dabei von „struktureller Integration“ oder von „sozioökonomischer Integration“ gesprochen.[2] In diesen Bereichen ist auch das Ziel von Integrationsprozessen klar, nämlich die Angleichung sozialer Positionen. Die Herkunft soll beispielsweise nicht vorbestimmen, welche Schulabschlüsse erreicht werden oder ob jemand in einer Hilfstätigkeit oder in einer leitenden Funktion beschäftigt ist. Es geht damit um die gleichberechtigte Teilhabe an diesen gesellschaftlichen Bereichen.


[1] Ein Überblick über die in der Wissenschaft geäußerten Kritikpunkte an „Integration“ findet sich beispielsweise bei Rosenberger & Gruber (2020).

[2] Siehe dazu bspw. die im deutschsprachigen Raum verbreiteten Integrationsmodelle von Esser (2001) und Heckmann (2015) oder die derzeit stark in der englischsprachigen Forschung verwendeten Integrationskonzepte von Ager & Strang (2008) und Pennix & Garcés-Mascareñas (2018).

 

Aufstiegsprozesse sind Generationenprojekte

Wenn Menschen mit vergleichsweise wenig Schulbildung im Erwachsenenalter zuwandern, sind diese Aufstiegsprozesse häufig Generationenprojekte. Zwar gelingt vielen auch in der ersten Zuwanderungsgeneration schon der Erwerb der Landessprache, die Arbeitsaufnahme und das Erreichen der finanziellen Selbstständigkeit; der Erwerb höherer Bildungsabschlüsse und der Aufstieg in höhere berufliche Positionen erfolgen aber häufig erst durch die nachfolgende(n) Generation(en).[3] Auch die historische Integrationsforschung belegt für klassische Einwanderungsgeschichten wie die der irischen Bevölkerung in Großbritannien, der polnischen Bevölkerung ins deutsche Kaiserreich oder auch europäischer Einwanderungsgruppen in den USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert den Langzeitcharakter von Integrationsprozessen – strukturellen wie kulturellen. Laut Lucassen wird die Vergangenheit in diesem Punkt oft „zu rosig“ und die Gegenwart zu sehr in „Grautönen“ gesehen.[4] Für Vorarlberg kann man auf die gut erforschte Geschichte der Einwanderung aus dem Trentino verweisen.[5] Die Zugewanderten aus dem Trentino, die ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in großer Zahl nach Vorarlberg einwanderten, arbeiteten vorwiegend in den Fabriken, im Bau oder im Wandergewerbe. Sie waren über viele Jahrzehnte eine ärmere Gruppe in der Gesellschaft, in die sie einwanderten, und diese Armut prägte auch ihr öffentliches Bild und trug zu ihrer „kulturellen Fremdheit“ bei. Auch die sozialen Aufstiegsprozesse dieser Einwanderungsgruppe verliefen über mehr als eine Generation, bis sie in den Sozialdaten nicht mehr beobachtet werden konnten.


[3] Aber auch bei den Nachkommen von Zugewanderten ist ein solcher sozialer Aufstieg nicht zwangsläufig, wie Portes & Zhou (1993) in den USA prominent am Beispiel der Nachkommen von Zugewanderten aus Asien, Lateinamerika und der Karibik nachwiesen. Als Faktoren, die Aufstiegsprozesse behindern oder begünstigen, arbeiteten sie heraus: staatliche Zuwanderungs- und Integrationspolitik, Haltungen in der Bevölkerung gegenüber der jeweiligen Zuwanderungsgruppen und Ressourcen der Unterstützung innerhalb der Community.

[4] Siehe dazu Lucassen (2005: 7).

[5] Siehe dazu Burmeister (1995).

 

Die Rolle der Aufnahmegesellschaft

Gerade beim sozialen Aufstieg, der über die Bildung und die berufliche Positionierung erfolgt, ist die Rolle von Institutionen der Aufnahmegesellschaft augenscheinlich. Inzwischen ist gut belegt, dass es einen Unterschied macht, wie Bildungssysteme gestaltet sind, wenn es darum geht, ob Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen höhere Bildungsabschlüsse erreichen. Einen positiven Einfluss haben dabei eine frühe Einschulung, eine späte Entscheidung über die weitere Bildungslaufbahn und das Vorhandensein von alternativen Bildungswegen in Richtung Hochschule. [6] Das österreichische Bildungssystem, das früh selektiert und stark auf Unterstützungsleistungen der Familie setzt, schafft für Bildungsaufstiege nicht die besten Voraussetzungen.[7] Aber auch wenn höhere Abschlüsse erreicht werden, kann Diskriminierung am Arbeitsmarkt den sozialen Aufstieg behindern. Und dass Menschen mit Bildungsabschlüssen aus dem Inland, deren Namen auf einen „Migrationshintergrund“ hindeuten, am Arbeitsmarkt benachteiligt sind, ist auch für Österreich nachgewiesen.[8]


[6] Am Beispiel der zweiten Generation zeigten Crul & Schneider (2010) in der TIES-Studie auf, dass die gleichen Zuwanderungsgruppen in unterschiedlichen europäischen Staaten deutlich unterschiedliche Bildungsabschlüsse erreichen, und arbeiteten die genannten Einflussfaktoren heraus.

[7] Siehe dazu auch Bacher (2022).

[8] Siehe bspw. Hofer et al. (2013), die anhand einer experimentellen Studie nachwiesen, dass bei gleicher Qualifikation Personen mit einem „österreichisch klingenden“ Namen deutlich häufiger zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden als Personen mit Namen, die auf serbische, türkische, chinesische oder nigerianische Wurzeln hinweisen.

 

Was bedeutet dies in Hinblick auf die Publikation „... und sie bewegt sich doch.“ (Update 2023)?

Diese Ausführungen sollen Sie als Leser*in dabei unterstützen, die in unserer neuesten Publikation dargestellten Ergebnisse zur Bildung, zur Beschäftigung und zur Wohnsituation von Zugewanderten aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie ihrer Nachkommen einzuordnen. Der Titel der Publikation „... und sie bewegt sich doch.“ soll unterstreichen, dass Aufstiegsprozesse stattfinden. Die Ergebnisse machen aber auch deutlich, wo Handlungsbedarf besteht.

 


Die zentralen Erkenntnisse im Überblick

 

Die Diversität von Vorarlbergs Bevölkerung:

  • Vorarlbergs Bevölkerung wird diverser.
  • Der Anteil der österreichischen Staatsbürger*innen unter den Zugewanderten aus der Türkei und ihren Nachkommen nimmt zu, unter jenen aus dem ehemaligen Jugoslawien stagniert er.
  • Vorarlbergs Jugendliche werden diverser – der Anteil der Jugendlichen “mit Migrationshintergrund” nimmt weiter zu.

 

Die Bildungswege von Jugendlichen:

  • Jugendliche mit Eltern aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien bleiben länger in Bildung – sie machen vermehrt Ausbildungen und Abschlüsse über die Pflichtschule hinaus.
  • Die Anteile der NEET (= nicht in Beschäftigung, Ausbildung oder Trainings) unter Jugendlichen “mit” und “ohne Migrationshintergrund” haben sich deutlich angeglichen.
  • Menschen, die im Kindesalter zugewandert sind, schätzen ihre Deutschkenntnisse im Erwachsenenalter ganz überwiegend als „fließend“ ein.

 

Die Beschäftigung der „ersten“ und „zweiten Generation“:

  • Frauen der „zweiten Generation“ sind gut in den Arbeitsmarkt integriert.
  • Beschäftigte Frauen “mit Migrationshintergrund” arbeiten tendenziell häufiger Vollzeit als Frauen “ohne Migrationshintergrund”.    
  • Männer und Frauen der „zweiten Generation“ arbeiten seltener in qualifizierten Tätigkeiten als Personen “ohne Migrationshintergrund”.
  • Formale Qualifikationen bleiben bei der “ersten Generation” weiterhin häufig ungenutzt.
  • Beschäftigte der „ersten“ und „zweiten Generation“ arbeiten nach wie vor häufig zu sozial ungünstigen Arbeitszeiten.
  • Die Beschäftigung von Zugewanderten konzentriert sich weiterhin stark auf einige Branchen.
  • Personen aus Drittstaaten und auch ihre Nachkommen arbeiten selten in der öffentlichen Verwaltung.

 

Die Wohnsituation von Zugewanderten und ihren Nachkommen:

  • Zugewanderte der „ersten“ und „zweiten Generation“ wohnen zunehmend im Privateigentum.
  • Der gemeinnützige Wohnbau bleibt für Zugewanderte aus der Türkei bzw. dem ehemaligen Jugoslawien und ihre Nachkommen eine wichtige Wohnform.

 


Literatur

Ager, A., Strang, A. (2008): Understanding Integration: A Conceptual Framework, Journal of Refugee Studies, 21/2, S. 166–191.

Bacher, J. (2022): Schulische und berufliche Integration von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz, verfügbar unter: https://www.jku.at/fileadmin/gruppen/119/AES/News_Aktuelles/Bacher_Integration_Jugendliche_mit_Migrationsgeschichte_V3.3.pdf.

Burmeister, K. H., Rollinger, R. (Hg.) (1995): Auswanderung aus dem Trentino – Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919, Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag.

Crul, M., Schneider J. (2010): Comparative integration context theory: participation and belonging in new diverse European cities, Ethnic and Racial Studies, Nr. 33/7, S. 1249–1268.

Esser, H. (2001): Integration und ethnische Schichtung, Arbeitspapier Nr. 40, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.

Heckmann, F. (2015): Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung, Wiesbaden: Springer VS.

Hofer, H. et al. (2013): Diskriminierung von MigrantInnen am österreichischen Arbeitsmarkt, Projektbericht. Institut für Höhere Studien (IHS), Wien.

Lucassen, L. (2005): The Immigrant Threat. The Integration of Old and New Migrants in Western Europe since 1850, Urbana and Chicago: University of Illinois Press.

Pennix, R., Garcés-Mascareñas, B. (2016): The Concept of Integration as an Analytical Tool and as a Policy Concept, in: Integration Processes and Policies in Europe. Contexts, Levels and Actors, Heidelberg: Springer, S. 11–29.

Portes, A., Zhou, M. (1993): The New Second Generation: Segmented Assimilation and Its Variants, The Annals of the American Academy of Political and Social Science, Nr. 530, S. 74–96.

Rosenberger, S., Gruber, O. (2020): Integration erwünscht? Österreichs Integrationspolitik zwischen Fördern, Fordern und Verhindern, Wien: Czernin Verlag.