Da Vorarlberg über eine quantitativ große türkischstämmige Bevölkerungsgruppe verfügt (ca. 10 % der Vorarlberger Bevölkerung), die über die „Gastarbeitermigration“ aus den ländlichen türkischen Gebieten ab den 1960er Jahren ins Land gekommen ist, ist es nicht verwunderlich, dass neben der Mehrheit sunnitischer Musliminnen und Muslime (deren Organisationen in der Studie „Vorarlbergs Moscheegemeinden“ im Detail beschrieben sind) auch eine beträchtliche alevitische Minderheit im Land lebt. Sie organisieren sich in Vorarlberg in zwei Gemeinschaften: dem Alevitischen Kulturzentrum in Vorarlberg (VAKM) in Weiler und dem Alevitischen Cem Kulturverein Vorarlberg (VACKM) in Lauterach.
Alevitische Gläubige führen die Entstehung des Alevitentums auf Ali zurück, den Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed, und damit auf den Streit um die Nachfolge des Propheten. Sie teilen mit der Schia die Auffassung, dass Ali der rechtmäßige Nachfolger des Propheten war. Alevitische Gläubige teilen die Ursprungsgeschichte, nicht aber die rituelle Praxis mit dem schiitischen Islam. Als eine eigenständige religiöse Tradition entstand das Alevitentum ab dem 13. Jahrhundert in Anatolien, in dem sich verschiedene, auch nichtislamische, Einflüsse und Traditionen mischten (Sökefeld, 2008:10). Alevitinnen und Aleviten beten in sogenannten Cem-Häusern, nicht in Moscheen. Was sie auch sichtbar vom traditionell praktizierten sunnitischen und schiitischen Islam unterscheidet, ist, dass Frauen und Männer gemeinsam beten. (Mehr zu den Ursprüngen, Grundsätzen und Institutionen findet sich im Text „Der alevitische Islam“ von Kurt Greussing im Downloadbereich.)
Eine kontroversiell geführte Debatte zwischen verschiedenen Strömungen des Alevitentums in der Diaspora betrifft die Frage der Zugehörigkeit bzw. Distanz zum Islam. Auch die beiden Vorarlberger Gemeinschaften unterscheiden sich in dieser Frage. Die alevitische Gemeinschaft in Weiler gehört zu der Gruppe, die sich nicht innerhalb des Islam verortet. Die Lauteracher Gemeinschaft sieht sich stärker als Teil des Islam.
Mit der „Alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (ALEVI)“ verfügt auch das Alevitentum über eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft, die den offiziellen Ansprechpartner des Staates für die Belange der Alevitinnen und Aleviten in Österreich darstellt. Über sie wird bspw. parallel zur Struktur der anderen anerkannten Religionen der staatlich finanzierte alevitische Religionsunterricht organisiert. Die Lauteracher Gemeinschaft ist Teil dieser Glaubensgemeinschaft, die alevitische Gemeinschaft in Weiler nicht. Die alevitische Strömung “Frei-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich” (“frei-aleviten österreich“), der die Weiler Gemeinschaft angehört, hatte die Anerkennung durch das österreichische Kultusamt zunächst nicht erreicht, auch weil ihnen die andere Strömung mit der Anerkennung zuvorgekommen war und nach österreichischem Recht nur eine anerkannte Religionsgesellschaft pro Religionsgemeinschaft die staatliche Anerkennung erringen kann. Seither rang die Strömung, der die Weiler Gemeinschaft angehört, um die Anerkennung als Religionsgemeinschaft durch den österreichischen Staat. In den letzten Jahren hatte sich der Konflikt noch einmal verschärft, weil ihren Gemeinden und Vereinen (auf juristischer Basis des Islamgesetztes von 2015) eine Art Zwangsintegration in die bestehende „Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (ALEVI)“ drohte, zu der diese jedoch ihrem eigenen religiösen Selbstverständnis nach nicht gehören. Nach langjährigem juristischen Streit mit der Republik Österreich bzw. dem Kultusamt erlangte sie erst im April 2022 den Status einer eigenständigen staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft. Damit erlangte die Glaubensgemeinschaft nun zwar Rechtspersönlichkeit, ist aber im Unterschied zu den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften keine Körperschaft öffentlichen Rechts. Die Zuerkennung des Status als Bekenntnisgemeinschaft ist eine erste Voraussetzung, um später allenfalls die volle gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft zu erhalten. Die Erlangung des Status als Religionsgesellschaft würde der Gemeinschaft u.a. auch das Recht einräumen, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen oder Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht abzuhalten. Um den Status einer Religionsgesellschaft in Österreich zu erlangen, muss die Bekenntnisgemeinschaft über einen Zeitraum von zumindest 20 Jahren (davon 10 Jahre in organisierter Form und zumindest 5 Jahre als staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft) bestehen. Außerdem muss die jeweilige Religionsgemeinschaft eine Angehörigenzahl von mindestens 2 Promille (0,2 Prozent) der österreichischen Bevölkerung nach der letzten Volkszählung aufweisen.
(Quelle zu Vorausetzungen für gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich: https://www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/kirchenein___austritt_und_religionen/3/Seite.820015.html)
Quelle: Grabherr, Eva, Burtscher-Mathis, Simon, Schmidinger, Thomas, Akkurt, Tamer (2019): Vorarlbergs Moscheegemeinden. Die Organisationen und ihre Entwicklung, okay.zusammen leben / Projektstelle für Zuwanderung und Integration, Dornbirn, S. 32-34.
Literaturtipps:
Im Text „Der alevitische Islam“ (2019) von Kurt Greussing findet sich
- eine Beschreibung der Ursprünge, Grundsätze und Institutionen des Alevitentums
- Informationen zu anti-alevitischen Vorurteilen sowie zur stärkeren öffentlichen Präsenz des Alevitentums in den letzten Jahrzehnten
- sowie Hinweise auf weiterführende Literatur und Internet-Quellen.
Der Text steht hier zum Download zur Verfügung.
Zur weiteren Vertiefung: Bumke, P.J. (1979): Kızılbaş-Kurden in Dersim (Tunceli, Türkei), Marginalität und Häresie, in: Anthropos Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde, Band 74/1979, S. 530-548, Download hier.